Pilgern ist in den letzten Jahren eine Mode geworden und es scheint manchmal so, als ob halb Europa nach Santiago will oder schon dort gewesen ist. Man kann zumindest sagen, dass der Massenbetrieb in Spanien ganz in der Tradition alter Pilgerzeiten liegt, denn in der besten Zeiten der mittelalterlichen Jakobswallfahrten waren auch Hunderttausende von Menschen auf dem Weg nach Santiago. Dementsprechend kann man sich bei Pilgertreffen herrlich über die schönste Kirche in Kastilien oder die herrliche Landschaft in Galicien austauschen. Menschen die nur ungefähr wissen, wo Vierzehnheiligen liegt und die Andechs für eine Biermarke halten, kennen in der Navarra jeden Stein. Kurz und deutlich: manch einer wandert hunderte Kilometer durch Spanien und hat vor der eigenen Haustüre wenig gesehen. Die Autoren dieser Seiten bekennen sich hier schuldig im Sinne der Anklage. Nach drei Pilgerreisen an das Ende der Welt hatten wir Lust, die eigene Heimat zu entdecken. Dabei findet man Erstaunliches. Davon soll hier die Rede sein. Zwei Jakobswege und eine Wallfahrt beschreiben wir - in der Hoffnung, dass wir die Leser begeistern können, auch vor der eigenen Haustüre auf Entdeckungsreise zu gehen. Eins können wir garantieren: Ruhe und Einsamkeit findet der Wanderer auf den bayrischen Jakobswegen genauso wie Naturgenuss und Spiritualität. Vielleicht heute sogar leichter als in Spanien.
Insgesamt durchziehen mehrere tausend Kilometer markierte Jakobswege den Freistaat. Die genaue Zahl lässt sich gar nicht angeben, weil täglich neue Wegstücke erschlossen und markiert werden. Für dieses Buch musste eine Auswahl getroffen werden. Dafür lassen wir uns bei keinem geringeren als dem König Ludwig I von Bayern und seinen Eisenbahnbauern inspirieren. Mitte des 19. Jahrhundert planten und realisierten sie eine komplette Nord-Süd-Verbindung mit der Bahn durch das Königreich. Sie wählten dazu eine Trasse, die von der Nordgrenze über die Knotenpunkte Bamberg, Nürnberg, Donauwörth, Augsburg, Kempten nach Lindau führte. Wenn man den fränkischen und den schwäbischen Jakobsweg verbindet, folgt man in etwa diesem Verlauf und hat so eine Nord-Süd-Achse für Pilger gefunden. In 22 Tagesetappen legt man die 510 Kilometer von Coburg am Fuß des Frankenwaldes bis nach Kempten im Allgäu zurück. Dieser Weg wird im Abschnitt „Coburg-Kempten“ beschrieben. Coburg ist wegen seiner verkehrsgünstigen Lage, seiner historischen Bedeutung und der Sehenswürdigkeiten ein idealer Ausgangspunkt. In Nürnberg wurde statt der häufiger begangenen Variante über Oettingen der relativ neue Weg nach Eichstätt gewählt. Hier hat vor allem die Bedeutung Eichstätts als uralte Bischofsstadt und Sitz der einzigen katholischen Universität Deutschlands den Ausschlag gegeben. Von Kempten gelangt man dann in drei weiteren Tagesetappen ins 83 Kilometer entfernte Lindau. Damit ist die Nord-Süd-Verbindung knapp 600 Kilometer lang. 25 Wandertage braucht man für diese Strecke. Das Teilstück von Kempten nach Lindau ist Teil des Münchner Jakobsweges. Dieser von Monika Hanna initiierte Weg führt von München in 270 Kilometern und 10 Tagesetappen am Alpenrand entlang. Wir beschreiben ihn im zweiten Abschnitt und komplettieren so nicht nur die Nord-Süd-Verbindung, sondern binden auch die Landeshauptstadt an.
Bleibt noch die Frage zu beanworten: Pilgerstab und Wanderschuh oder Mountainbike und Fahrradhelm? Die Jakobswege in Bayern sind von ihren Erfindern als Wanderwege geplant worden. Die Strecke eignet sich mit kleinen Anpassungen aber auch hervorragend als Mountainbiketour. In diesem Buch wird dem Rechnung getragen. Der Schwerpunkt liegt auf der Beschreibung als Wanderweg, im Text finden Mountainbiker aber die notwendigen Informationen um diesen Weg zu „erfahren“ - im wörtlichen Sinn. Je nach Fahrkönnen und Ausdauer können zwei bis drei Tagesetappen mit dem Rad zusammengefasst werden. Man sollte die Strecke allerdings nicht unterschätzen, fast 10000 Höhenmeter warten zwischen Coburg und Lindau auf uns und verhindert, dass wir allzu schnell vorankommen. Das ist auch gar nicht Sinn der Sache, denn auf einem Pilgerweg soll man sich Zeit nehmen zum Verweilen und zur Besinnung.